Viele werden jetzt wissend nicken, wenn ich sage: Auf Buchmessen habe ich keine Chance. Also keine Chance, ohne einen dicken Stapel Bücher rauszugehen, die ich nicht so schnell lesen kann, wie ich gerne würde. Bei diesem speziellen hier hat es eineinhalb Jahre gedauert, bis ich es aufgeschlagen habe: „Lust“, von Odile Kennel. 

So lange hat es gemütlich in meinem Bücherregal gewohnt und gewartet. Und dann hatte ich spontan Lust auf „Lust“ und es war genau, was ich brauchte, bevor ich am nächsten Morgen die Kinder wieder von den Großeltern geholt habe: Kurz, reichhaltig und berauschend gut. 

Über die Lust – Am Schreiben, am Körper, an der Sprache und überhaupt

Der kurze Text – 42 Seiten in A6 – ist Teil der Edition Poeticon vom Verlagshaus in Berlin. Ich hab sowohl die schönen Bücher als auch den Verlag für mich ganz neu auf der Krilit – Kritische Literaturtage – im Mai 2024 entdeckt und dort spontan „Lust“ mitgenommen. Von Odile Kennel hatte ich bis dahin nichts gehört und nicht gelesen.

Doch das ändert sich jetzt sicher bald, denn ich mochte einfach alles an dem Buch!

Als poetische Annäherung an ein großes Thema konzipiert und gedacht, geht es um Wörter und Lust, um Körper und um die Beziehung dieser drei. Miteinander. Und mit der Person, die schreibt. Das heißt, es geht ganz viel um Schreiben, um den lustvollen Akt, Buchstaben und Wörter aneinanderzureihen, aber auch um Körperbilder und Rollenbilder in unserer Gesellschaft.

Wer jetzt aber an eine wissenschaftliche Abhandlung oder auch einen Essay denkt ist weit gefehlt, denn: Der Text ist fragmentarisch und experimentell. Poetisch und abstrakt. Er spielt mit Klängen, und Rhythmen und Worten, mit Ideen und vor allem mit Sprachen. Die Sprachen! 5 verschiedene habe ich beim Lesen erkannt: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Portugiesisch. Und müsste man es sprachlich einordnen, wäre es ein Buch auf Deutsch, denn in dieser Sprache sind sicher 98% des Textes verfasst. Aber dazwischen flicht Kennel kurze Phrasen, einzelne Wörter in diesen anderen Sprachen und bringt sie in thematischen oder klanglichen Zusammenhang – es ist die pure Freude.

„da wechselt die Sprache die Sprache!
oh, mon désir de dire dir dear! lust linger in
between, ist nie auf der ligne, schon eher im linge,
im longing, im langue in, languir, lange gierig,
…“
Odile Kennel, Lust, 2023, Edition Poeticon #16, Verlagshaus Berlin, S. 33

Ist das nicht großartig!?!

Neben dem Lesevergnügen ist jeder zweite Absatz auch als Inspiration für das eigene Schreiben zu lesen: Was macht mir Lust? Unlust? Bereite mir Scham oder Kopfzerbrechen? Mit wem spreche ich eigentlich, wenn ich schreibe und was passiert in mir?

 

Vielleicht bin ich auch deshalb so euphorisch, weil es mich an eines meiner absoluten Lieblingsbücher der letzten Jahre erinnert: „Nachwasser, von Frieda Paris. Wer das kennt und mag, wird wahrscheinlich auch „Lust“ von Odile Kennel genießen. Und wer beides nicht kennt hat jetzt vielleicht Lust, einen Buchladen aufzusuchen.